Déjà-vu

 

Frau Reimann hatte ein Zimmer in einem kleinen Hotel in Smichov bestellt, telefonisch.Von Smichov aus konnte man auf ganz Prag hinuntersehen, wie auf einem Tablett lag die Stadt einem zu Füßen. Das Prager Meer, hatten sie früher gesagt. Sie liebte Prag, auch wenn sie noch ein Kind war damals, erst sieben Jahre alt, als sie flüchten mussten. Die Familie hatte in der Altstadt gewohnt, in der Stabenovgasse. Das Haus stand noch. Bekannte, die nach Prag gefahren waren, hatten es ihr gesagt. Das Haus hatte ihrem Vater gehört, einem Wehrmachtsoffizier. Er hatte es von einer jüdischen Familie, die ausgesiedelt worden war, wie ihr die Mutter gesagt hatte. Des Vaters Name war im Grundbuch eingetragen, sie hatte eine Chance. Ob sie diese Chance nutzen würde, wusste sie noch nicht. Aber sie wollte das Haus wiedersehen, wenigstens das, fürs erste. Vor Ort sah immer alles ganz anders aus.

 

Die Stadt schlief noch. Ein paar Autos waren unterwegs. Sonst nichts, kein Mensch auf der Straße. Der Zug nach Prag ging früh ab. Der Nachmittagszug wäre praktischer gewesen, dann hätte der Junge den Koffer tragen können, sie hätte ihn schon überredet. Er hatte sich geweigert. Bei der Sache mache er nicht mit, hatte er gesagt, mit ihrer schauerlichen Nostalgie könne er nichts anfangen. Den armen Tschechen das Haus unter dem Hintern wegziehen, dazu sei auch nur sie fähig.

 

Der Zug stand abfahrbereit, als sie sich mit dem Koffer die Treppe hochgequält hatte.

Er war voll, junge Leute, Tschechen, die nach Hause fuhren, hatten alle Sitzplätze belegt.

Erst am Ende des Zuges fand sie noch einen Sitzplatz. Sie sah aus dem Fenster, und als der Zug die Grenze passierte, sie wusste nicht, dass es die Grenze war, wurde es lauter im Zug. Die jungen Leute waren zu Hause, sie lachten jetzt und Scherze flogen hin und her.

 

Landschaft, ein paar Berge, nichts als Grün vor dem Fenster, es flog vorbei. Einmal, als sie Prag schon nähergekommen waren, der Zug fuhr durch einen Vorort, glaubte sie ein Haus wiederzuerkennen, sie konnte den Blick nicht losreißen. Es war ein Blick in die Kindheit, die behütete Kindheit, das Wohlleben. Wäre nur das Ende nicht gewesen.

 

An das Ende konnte sie sich kaum erinnern. Die Mutter sagte, sie hätten flüchten müssen, sonst hätte man sie alle, die Deutschen, totgeschlagen. Woran sie sich erinnern konnte, war, dass sie sehr lange laufen musste, an der Hand der Mutter. Das war alles. In Dresden waren sie dann gestrandet.

 

Jahrzehntelang, nach dem Tod der Mutter, hatte sie nicht mehr an Prag gedacht. Einmal aber, es war kurz vor dem Ende der DDR gewesen, war ihre Betriebsbrigade zu einem Ausflug nach Prag gefahren, kostenlos, die Gewerkschaft hatte Fahrt und Übernachtung bezahlt. Sie war nicht mitgefahren, hatte sich herausgeredet: Der Junge, er studierte noch, sie könne ihn nicht allein lassen. Als die Kollegen dann zurückkamen, wollte sie nichts hören von Prag. Dass sie Sudetendeutsche war, verriet sie niemanden, auch hatte sie den böhmischen Tonfall recht schnell verloren, schon in der Schulzeit. Der Vater war 1943 in Russland gefallen, und die Mutter hatte sich mit ihr durchschlagen müssen, und jedes dritte Wort war Prag gewesen. Die Mutter wollte bis zum Schluss nicht begreifen, dass ihre Heimat jetzt Dresden hieß.

 

Das Haus in der Stabenovgasse gehörte ihr, sie war die Erbin. Sie hatte es schriftlich, den Grundbuchauszug. Dort stand es: Ewald Wippke, eingetragen am 31. Juli 1942.

 

Der Bahnhofslautsprecher rief die Station aus: Praha. Mehr verstand sie nicht, sie sprach kein Tschechisch. Sie nahm einen Bus, er fuhr hinauf nach Smichov. Das Hotel war eine mehrstöckige Villa im Jugendstil. An der Rezeption wurde deutsch gesprochen, doch der Mann hinter dem Tresen war unfreundlich. Wortlos führte er sie hinauf in ihr Zimmer, unter dem Dach. Das Zimmer hatte runde Fenster. Sie öffnete eines. Prag, die Stadt lag ihr zu Füßen.

 

Die Kindheit war wieder da. Das Haus, es hatte zwei Etagen, es war schmal gewesen, eingezwängt zwischen andere schmale Häuser in der Altstadt. Sie wusste, wo sie es von hier oben suchen müsse. Aber dann schloss sie das Fenster. Morgen, dachte sie, morgen ist auch noch ein Tag.

 

Am nächsten Morgen fuhr sie mit dem Bus nach Prag hinein. Sie musste die Metro nehmen, um zur Altstadt zu gelangen. Sie kannte sich nicht aus. Erst als sie vor dem Rathaus stand, die Touristen sah, die ah und oh riefen, als sich das Turmwerk in Bewegung setzte und als sie in den Stadtplan sah, lief sie los, zur Stabenovgasse.

 

Die Straße hatte sich verändert. Sie glaubte, sich erinnern zu können, dass es im Eckhaus ein kleines Restaurant gegeben hatte. Sie fand es nicht. Fachwerkhäuser, rechts und links, zwei Lücken wie Zahnlücken im Straßengebiss. Sie konnte die Schilder nicht lesen, eine Baufirma wollte dort bauen.

 

Das Haus stand noch, es war restauriert, das sonnenbeschienene Weiß des Fachwerks ließ die Augen schmerzen, das Haus war bewohnt. Sie las die Namen am Klingelschild: tschechische Namen. Sie wusste nicht mehr, welches ihr Fenster gewesen war. Sie stand am ausgetretenen Stein vor der schmalen Eingangstür, einen Fuß auf dem Stein, und sah hoch. Hinter allen Fenstern Gardinen. Sie kramte den Fotoapparat aus der Handtasche und trat ein paar Schritt zurück, damit sie das Haus als Ganzes aufs Bild bekäme. Ein Mann blieb stehen und beobachtete, wie sie es fotografierte. Er sagte nichts, bevor er weiterging.

 

Wenn sie jetzt auf einen Klingelknopf drücken würde und sagen, das Haus gehöre ihr – was würde geschehen? Dann würde geschehen, was sie schon einmal erlebt hatte, nur umgekehrt. Damals hatten sie in Dresden vor ihrem Haus gestanden, zwei Brüder aus Westdeutschland, Erben eines gottvergessenen Besitzers. Der Junge war zu jung gewesen, um etwas dagegen zu unternehmen, das Wortgeplänkel richtete nichts aus. Sie wusste nicht, was tun, und sie war mit ihm ausgezogen, hinaus aus Dresden, in eine kleine Wohnung. Aber das schmerzliche Gefühl, dass sie an jenem Tag ihr ganzes bisheriges Leben aufgeben musste, das war geblieben.

 

Sie warf noch einen Blick auf das Haus, als sie langsam durch die Stabenovgasse zurückging. Die Kamera über der Schulter, eine vermeintliche Touristin, schlenderte sie den Rest des Tages durch die Altstadtgassen.Vom Wenzelsplatz hatte sie gehört und auch öfter Bilder von ihm im Fernsehen gesehen. Der Platz war belebt, voller Touristen. In einem Schnellrestaurant verschlang sie eine Wurst mit Pommes.

 

Abends war sie wieder in Smichov. Sie bezahlte das Hotelzimmer, am nächsten Morgen würde sie abreisen, erklärte sie dem Unfreundlichen hinter dem Tresen. Sie glaubte, so etwas wie Zufriedenheit in seinem Gesicht gelesen zu haben.

 

Die Aufnahme würde nicht sehr gut sein, sie hatte sich die Kompaktkamera von einer Freundin geliehen, sie fotografierte nie. Aber sie würde sich das Foto einrahmen und auf die  Anrichte stellen, zu den Familienbildern, neben das Bild des Vaters in seiner Uniform, das sie wieder hervorgeholt hatte, erst neunzig, nach der Wende, wie diese Zeit heute genannt wurde. Sie würde nicht wissen, weshalb sie das täte, aber sie würde es tun. Es gehörte sich so für eine Vertriebene.

                             

 

Das Schnippchen

 

Die Mittagssonne schien in die Küche. Inga trat ans Fenster und sah auf den menschenleeren Hof hinaus.

Auf dem Herd brodelte das Mittagessen, es gab Mohrrübeneintopf. Gern hätte Inga etwas Opulenteres gekocht. Aber die Mutter brachte es fertig, keinen Bissen herunterzuschlucken, falls ihr das Essen nicht gefiel, egal, wie gut es zubereitet war. Und gestern hatte sie eher befohlen als gewünscht, morgen zu Mittag Mohrrübeneintopf essen zu wollen.

 

„Inga! Ingachen! Komm doch!“ Inga löste sich widerwillig vom Fenster, sie musste sich anstrengen, der Mutter ein unbemühtes Gesicht zu zeigen, im Gehen probierte sie ein  Lächeln.

 

Die Mutter streckte der Tochter die Arme entgegen, wortlos.

 

„Auf die andere Seite, Mutter?“

 

„Ja, Ingachen, wenn du so lieb sein würdest.“ Inga hob den Kopf der Mutter an, sie fühlte das schüttere Dauerwellenhaar in der Handfläche. Mit beiden Armen drückte sie den schweren Leib der Mutter auf die andere Seite, zum Fenster.

 

„Gib mir deine Zähne. Ich will nicht, dass du erstickst.“

 

„Was ist denn heute für ein Wetter, Ingachen?“ Nun, zahnlos, nuschelte die Mutter, und Inga empfand so etwas wie einen kleinen Triumph, den sie sich nicht erklären konnte.

 

„Oktoberwetter, Mutter. Herbst eben.“

 

„Aber es scheint doch die Sonne.“

 

„Ja, Mutter, es ist ein sonniger Tag.“

 

Die Mutter griff zur Schnabeltasse auf dem Nachttisch. Sie schlürfte mit ihrem zahnlosen Mund. Inga saß im Sessel am Fenster und warf ab und zu einen Blick hinüber zum Bett der Mutter.

 

„Ist der Tee auch nicht zu kalt?“

 

„Es geht, ich trinke ihn gern ein bisschen lauwarm.“ Die Mutter ließ den Kopf ins Kissen zurückfallen. „Wann kommt denn dieser Nervtöter, der mir die Spritze gibt?“

 

„Das weißt du doch, jeden Tag um dieselbe Zeit, gegen sechs. Was fragst du?“

 

Die Mutter blickte misstrauisch und, wie es Inga schien, prüfend zu ihr hinüber. „Ich habe es vergessen. Ach, Ingachen“, der zahnlose Mund der Mutter bewegte sich wie eine geöffnete Muschel, „Kind, ich will nicht mehr.“

 

„Was du immer erzählst. Hab dich nicht so. Und dabei scheint die Sonne. Weißt du was, Mutter - wollen wir Mensch ärger dich nicht spielen?“ Inga hatte schon die Schranktür geöffnet.

 

„Nein, lass, heute nicht. Ich will reden. Lieber reden.“

 

„Worüber, Mutter?“

 

„Weiß nicht. Ich denk manchmal, Inga, solange man redet, lebt man.“

 

„Aber du lebst doch. Und manchmal redest du viel zuviel. Achtzig Jahre sind kein Alter, Mutter.“

 

„Was macht denn dein Gerd inzwischen?“ Das Gesicht der Mutter belebte sich. „Wenn du bei mir bist? Du vernachlässigst ihn doch nicht etwa? Ich will nicht, dass ihr auseinandergeht.“

 

„Nein, Mutter. Wir gehen nicht auseinander. Gerd ist sowieso die Woche über nicht zu Hause. Er kommt erst am Sonnabend.“

 

„Sonnabend?“

 

„Ja, Sonnabend.“

 

„Das ist doch keine Ehe, Kind.“

 

„Nein, Mutter. Eine Ehe ist das nicht.“

 

„Das ist ja, als ob er dein Galan wäre. Aber lieb hast du ihn doch, nicht?“

 

„Mutter, ich bin siebenundfünfzig.“

 

„Eine Antwort ist das nicht. Du gibst mir nie eine Antwort. Als ob ich nichts mehr begreifen würde. Alt und dumm, denkst du. So bist du, herzlos.“

 

Die Mutter schloss die Augen. Das tat sie immer, wenn sie mit Inga unzufrieden war.

Inga erhob sich, sie musste nach der Suppe sehen.

 

„Dein Vater, Inga“, die Mutter öffnete wieder die Augen, „der ist ja schon lange tot. Lass mich nachrechnen.“

 

„Seit ich vierzehn war, Mutter.“ Inga stand schon an der Tür.

 

„Ja, vierzehn warst du damals. Aber dass du jeden Sonntag mit ins Krankenhaus gekommen bist, das hat er dir nicht vergessen.“

 

„Ich muss mich um die Mohrrüben kümmern, Mutter.“

 

„Mach doch mal das Fenster auf, ich schwitze. Was gibt es denn heute zu essen?“

 

„Habe ich eben gesagt: Mohrrübeneintopf. Noch eine Viertelstunde, Mutter.“

 

„Ich wollte heute grüne Bohnen. Nie machst du, was ich dir sage.“

 

Inga stand vor dem Bett der Mutter. „Gib endlich Ruhe. Du plapperst und plapperst.“

 

„Droh du mir ruhig. Ich schlag dir doch ein Schnippchen.“ Die Mutter schloss die Augen.

  

Inga war verärgert. Ewiges Gerede, Schnippchen schlagen, ha! Die Mutter! Sie konnte froh sein, dass sie noch den Oberkörper bewegen konnte.   

 

Die Mutter musste gefüttert werden, Löffel für Löffel. Sie hatte es abgelehnt, selbst zu essen, sie wollte das Bettdeck nicht bekleckern. Der Eintopf war noch heiß, Dampf stieg über dem Teller auf. Inga hatte ihr die Zähne wiedergegeben.

 

„Wie oft hab ich dir schon gesagt, ich verbrüh mir die Zunge! Du lernst nicht aus.“

 

 "Dann musst du warten, bis das Essen kalt ist.“ Inga setzte den Teller ab.

 

„Aber ich habe jetzt Hunger.“

 

Inga rührte, sie pustete den Rauch vom Teller. „So, jetzt. Mach den Mund auf, Mutter.“

  

„Wenn du mich verbrennst, schrei ich.“ Gehorsam öffnete die Mutter den Mund.

 

Endlich war der Teller leer. „Hast du noch Hunger?“

 

Die Mutter schüttelte den Kopf. Erschöpft lag sie im Kissen.

 

Inga wischte ihr den Mund ab. „Gib mir die Zähne. Erstick mir nicht.“

 

Inga war, während die Mutter schlief, einkaufen gewesen und hatte den Rest der Zeit in der Küche verbracht. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie sich im Schlafzimmer hinlegen sollte, entschied sich aber doch, in der Küche zu bleiben. Hier konnte sie besser hören, ob die Mutter erwachte.

 

Nach dem Teetrinken wollte die Mutter Mensch ärger dich nicht spielen. Inga ließ sie gewinnen.

 

„Noch ein Spiel?“

 

Die Mutter überlegte. „Nein. Und Baccara kannst du ja nicht.“

 

Nein, Baccara konnte sie nicht. Es zu lernen, hatte sie vor Jahren abgelehnt. Kartenspiele! Vergeudete Lebenszeit! Jeden Mittwoch war die Mutter vor ihrem Unfall deshalb zu ihren Freundinnen aufgebrochen, der halbverrückten Hilde Bork und der ehemaligen Schauspielerin Nadja Reuter, die Inga gestern bei ihrem Besuch mit längst vergessenem Theaterklatsch in den Ohren gelegen hatte.

 

 "Hier, Mutter, ich habe dir die Zeitung mitgebracht.“

 Die Mutter las Zeitung. Sie schlug den Mittelfalz auf und begann dort zu lesen, Politik interessierte sie nicht. Nur das   Umblättern und Geräusche von der Straße unterbrachen

 die Stille des Zimmers.

 

„Inga?“ Die Mutter faltete die Zeitung zusammen.

 

„Ja, Mutter?“

 

„Ich will, dass du es für mich tust.“

 

„Was soll ich tun?“

 

 "Du weißt schon. Es steht in der Zeitung.“

 

„Was steht in der Zeitung?“

  

„Na das. Das mit dem Kreonikinstitut. Alle machen es.“

 

„Komm mir nicht mit diesem Unsinn, Mutter. Das ist was für Lebensmüde, für gehobene Leute, Mutter, Reiche, die zuviel Geld haben. Ach, Mutter. Wenn man dir schon mal eine Zeitung mitbringt ...“

 

„Aber sie schreiben doch, es ist schmerzlos ...“

 

„Lass sie schreiben. Du wirst hundert Jahre alt.“

 

„Inga, mein Kind.“ Die Stimme der Mutter schmeichelte. „Inga. Komm zu mir, gib mir deine Hand.“

  

„Noch ein Wort und ich gehe!“

  

„Du gehst? Du kannst mich doch hier nicht allein lassen! Undankbare, du ..“

 

„Willst du noch ein Spiel Mensch ärger dich nicht?“

 

Die Mutter schob beleidigt die Unterlippe vor. „Lenk ruhig ab. Eines Tages schlag ich dir doch ein Schnippchen.“

 

Inga ließ sie reden. Sie atmete auf. Die Mutter hatte sich beruhigt. Inga sah auf die Straße. Es war schon dämmrig. Die Bilder verschwammen vor ihren Augen. Sie war müde, jetzt ein wenig Schlaf, mehr wünschte sie sich nicht.

 

„Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr, ich will nicht mehr!“ Der Schrei der Mutter riss Inga hoch. Die Mutter wühlte den Kopf ins Kissen, sie warf ihn herum, rechts, links, rechts, links.

Das Gesicht der Mutter verzog sich. Inga stürzte sich auf sie. Sie umfasste den Kopf der Mutter.

 

„Aber Mutter, wenn du ...“ Sie küsste das Gesicht der Mutter, die Stirn, die Wangen, die Nase. „Kein Wort mehr, Mutter! Kein Wort davon!“ Die Mutter wimmerte, winselte, stöhnte.

 

„Muttilein, nicht doch, so doch nicht ... Hätte ich dir bloß nicht die Zeitung ...“

 

Die Mutter stöhnte, stieß Unartikuliertes aus, mit schwachen Armen wollte sie die Tochter von sich wegschieben, Inga sah Tränen. Entschlossen ließ sie den Kopf der Mutter los, sie richtete sich auf. „Aber wenn du es willst, Mutter ...“ Ihre Stimme war tonlos. „ Ich tu es.“

 

„Du tust es?“

 

„Ja, Mutter. Wenn du es nicht anders willst.“

 

 „Versprich es.“

 

 "Ein andermal.“

 

„Du lügst! Du lügst mich an! Du lügst deine Mutter an!“ Wieder dieses Winseln und Wimmern, die Mutter stöhnte, sie schlug mit den Fäusten auf das Bettdeck. „Du liebst mich nicht! Ich habe keine Tochter mehr ... Keine Tochter ... Du Undankbare ... Du Tier!“

 

Sie stieß einen Schrei aus. „Undankbare ... Undankbare ...“

 

Inga rührte sich nicht. Sie kannte diese Anfälle doch, sie sollten sie nicht mehr berühren, sie hatte es vergessen. Der letzte Anfall lag ein paar Wochen zurück.

 

Es schien Stunden zu dauern, ehe sich die Mutter wieder fasste.

 

Die Mutter, bemerkte Inga dann, beobachtete sie aus Augenschlitzen. Als keine Reaktion von Inga kam, schnäuzte die Mutter sich die Nase und schoss feindselige Blicke hinüber zum Fenster, wo Inga saß. 

 

Zähe Ruhe im Zimmer. Inga blickte hinaus, auf die Straße, die sich belebte. Die Autos fuhren mit eingeschalteten Scheinwerfern, Leute überquerten die Straße. Zeit, im Zimmer Licht zu machen.

 

„Bring mir ein Glas Wasser, Inga.“ Die Stimme der Mutter befahl. „Dreh mich vorher zum Nachttisch. Und ich will meine Zähne.“

 

Im Flur sah Inga auf die Uhr. Noch eine Viertelstunde, und der Pfleger würde klingeln.

Sie ließ das Wasser ein paar Minuten ins Abwaschbecken strömen, ehe sie das Glas volllaufen ließ. Das Wasser war eiskalt.

 

An der Tür fiel ihr das Glas aus Hand. Es zerschellte auf der Schwelle.

 

Die Mutter lag auf dem Rücken, den Kopf unnatürlich ins Kissen gedrückt, mit offenen Augen. Sie lächelte. Triumphierend, mit vorgerecktem Kinn.

 

Ingas Füße bewegten sich zum Bett der Mutter. Sie trat auf etwas, es knirschte. Ein Tablettenröhrchen. Es war leer.

 

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Angekommen

 

Marga Riemann fühlte sich schlecht, gleich beim Erwachen. Wie immer in den letzten Jahren, seit ihr der Mann gestorben war, wachte sie früh auf, wenn es noch dunkel war, schon um drei. Dann, als sie merkte, dass es sie sogar auf dem Kopfkissen schwindelte, lag sie noch eine Weile, sie war wohl eingeschlummert.

 

Um vier stand sie auf. Sie bückte sich, um nach den Hausschuhen zu langen. Ihr wurde schwarz vor Augen. Der Blutdruck, die Doktorsche hatte gesagt, mit dem müsse sie sich vorsehen. Sie fiel zurück aufs Bett. Ihr Leib lag schwer auf der zerwühlten Bettdecke. Es gelang ihr hochzukommen, indem sie sich auf die Ellbogen stützte, bis sie stand, auf den bloßen Füßen. Es war kühl im Zimmer, sie schlief immer mit offenem Fenster, trotz des Autoverkehrs auf der Straße, der sie schon seit langem nicht mehr störte. Aber die Nacht war kalt, jetzt, im Dezember.

 

Mit schwerem, unsicherem Schritt tapste sie zur Tür. Angelangt, hielt sie sich einen Moment an der Klinke fest, wieder fühlte sie diese Blutleere im Kopf, ihr war, als würde sie erblinden, der schwarze Vorhang vor Augen wollte nicht weichen.

 

Sie musste einen Kaffee trinken und ihre Medikamente einnehmen. Gestern war sie leichtsinnig gewesen und hatte das Pillenzeug erst mittags eingenommen, beinahe hätte sie es vergessen. Die Rache der Doktorschen folgt auf dem Fuß, dachte sie. Was war das aber auch für eine Frau, immer in Eile, zu keinem Spaß aufgelegt, streng und prinzipiell, ließ nicht mit sich reden. Nein, sie hätte sich eine andere Frau Doktor gewünscht, aber der Sohn hatte sie zu ihr geschickt, und den Sohn durfte sie nicht enttäuschen, er könnte wegbleiben, und dann käme niemand mehr zu ihr. Außer der Doktorschen und morgens, noch vor dem Dienst, auf einen Husch die Nachbarin, die ihr immer die Zeitung hochbrachte.

 

Die Kaffeemaschine, kaum benutzt, hatte ihr der Sohn geschenkt, vor zwei Jahren, zu Weihnachten, weil sie ihm den Kaffee, wenn er kam, immer türkisch aufgebrüht hatte. Den türkischen Kaffee trank er mit angewidertem Gesicht und spuckte die Kaffeekrümel auf die Untertasse, und es hatte ihr wehgetan, wenn er vor ihr auf der Couch saß und die Augen verdrehte.

 

Bis die Doktorsche kommen würde, hatte sie Zeit. „Na, gut geschlafen, Frau Riemann?“, würde sie fragen, wie immer würde sie ein „Ja, gut, Frau Doktor“ von ihr hören. Was sollte sie ihr mit der Schlaflosigkeit kommen, damit kämpfen alle Leute in ihrem Alter, und Schlaftabletten kamen für sie nicht in Frage. Nicht für sie. Vielleicht noch tablettenabhängig werden, das fehlte noch.

 

Sie stellte das altmodische Radio an, das  aus der Zeit stammte, als ihr Mann noch lebte. Es war ein Röhrenradio, groß und mit repräsentativem Gehäuse. „Wozu“, hatte ihr Mann gefragt, als sie ihn drängte, eines dieser neuen glänzenden Geräte aus dem Schaufenster zu kaufen, „der Ton unseres alten Radios ist gut, die Bedienung kinderleicht, was brauchst du altes Haus noch ein neues Radio? Und dann erbt es sowieso bloß der Sohn.“ Sie hatte ihn müde angeblickt, sie verstand ihn. Er hatte Prostatakrebs im Anfangsstadium, und er wusste es, obwohl ihn der Arzt mit einer Blasengeschichte beruhigt und nur mit ihr, der Ehefrau, darüber geredet hatte. Fast ein ganzes Jahr hatte ihr Mann noch gelebt, mit höllischen Schmerzen, aber gelebt.

 

Die Tasse in der Hand zitterte, als sie ins Wohnzimmer schlurfte, der Kaffee schwappte auf die Untertasse. Der Sessel stand so, dass sie einen bequemen Blick auf den Fernseher hatte. Der andere Sessel war der ihres Mannes gewesen, in dem war er dann gestorben. Eben hatte er noch irgend etwas gesagt, sie hatte es nicht richtig verstehen können, sie hatte das Hörgerät noch nicht im Ohr, und im selben Moment war sein Kopf auf die Brust gefallen. Sie hatte ihn gepflegt, er wollte, dickköpfig, wie er war, der Hermann, nicht ins Krankenhaus. Sie erschrak: Seinen Namen hatte sie eben laut ausgesprochen. Selbstgespräche passierten ihr in der letzten Zeit des öfteren.

 

Sein Foto stand neben dem Fernseher, in einem Goldrahmen. Jedesmal, wenn sie zur Fernbedienung, die auf dem Tisch lag, griff, blickte sie erst mal hin zu seinem Foto, als wolle sie ihn um sein Einverständnis fragen, wie früher, als er noch lebte. Es war ein Urlaubsfoto, das jüngste, das sie von ihm hatte, Hermann lachte, sie wusste nicht mehr, worüber. Sie war auch drauf, neben Hermann, doch wenn sie auf das Bild blickte, sah sie nur ihn. An den Tag konnte sie sich gut erinnern, als eine Urlauberin die Fotos von ihnen geknipst hatte. In Thüringen waren sie gewesen, in Tabarz, in einem Heim, in dem Intelligenzlerheim. Hermann hatte den Urlaubsplatz über seinen Betrieb ergattert, das war 1987. Und jetzt war Hermann schon lange tot. Sie überlegte einen Moment. Ach ja, gestorben ist er wann? Sie überlegte.  Vor sieben Jahren. Schon sieben Jahre. Sie schloss die Augen, sie nickte ein.

 

Es war halb sieben, als es klingelte. Die Nachbarin brachte die Zeitung vom Briefkasten hoch. Sie schreckte auf, wollte sich aus dem Sessel erheben, fiel wieder zurück. Heute wollte ihr aber auch gar nichts gelingen, sie musste sich an der Tischkante festhalten, damit sie aus dem Sessel hochkam. Wieder dieser schwarze Vorhang vor Augen, als sie stand.

 

Sie schlurfte zur Wohnungstür.

 

Der Sohn hatte auf ihr Drängen kopfschüttelnd drei Riegel an der Tür angebracht. Bedächtig öffnete sie einen nach dem anderen und zog die Tür einen Spalt auf. Eine Hand reichte die Zeitung herein. „Ich hab es eilig heute morgen“, sagte die Nachbarin, eine Frau in den Vierzigern, und war schon halb im Gehen. „Keine Zeit für unser Plauderminütchen.“

 

Sie stand noch einen Moment, bis das Geräusch der Nachbarstür im Treppenhaus verebbte.

 

Im Wohnzimmer setzte sie die Lesebrille auf, blätterte die Zeitung um, las die Überschriften.  

Nein, die Welt war nicht mehr schön, schon wieder Krieg, immer noch, wo jetzt die Menschen starben. Wo es doch einmal hieß: Nie wieder Krieg. Damals, als die Bombennächte endlich vorbei waren. Was für eine Zeit war das gewesen. Sie blutjung und der Junge im Kinderwagen, und die Sirene heulte, und dann die Zeit in der Bunkerzelle, und als der Krieg zu Ende war, nichts als Trümmer. So sah es jetzt auch dort in Syrien aus. Die Menschen lernten nichts aus ihren Kriegen.

 

Am besten wäre es, dachte sie, und sie dachte es nicht zum ersten Mal, am besten wäre es, ich fiele um, und weg wäre ich. Das ist keine Welt, in der ein Mensch noch leben möchte. Sie hatte ihre Zeit gehabt, und jetzt war die Zeit herum, und jetzt musste sie ans Sterben denken.

 

Sie dachte nicht wirklich ans Sterben, aber sie stellte sich vor, wie es sein würde. Der Sohn würde an ihrem Bett sitzen, seine Frau, mit der sie sich nie vertragen hatte, würde er zu Hause lassen, und die Enkelin würde sowieso keine Zeit haben, zu ihrer sterbenden Oma zu kommen. Schade, dachte sie, dass die Zeit so schnell vergangen war, die Enkelin war erwachsen, und sie hätte ihr doch so viel erzählen müssen, von der Familie, wie es damals war in Berlin, mit der Arbeitslosigkeit und der schäbigen Einzimmerwohnung, und dann die Hitlerei und der Krieg, und dass sie Glück gehabt hatte, weil ihre Wohnung nicht zerbombt worden war.

 

Der Sohn würde also an ihrem Bett sitzen. Er würde sie mitleidig ansehen und wissen, dass sie wusste, es geht ans Ende.

Sie hielt inne. Arbeitslos war er jetzt, seine Frau war stundenweise irgendwo Putzhilfe, war ja auch nicht mehr die Jüngste und musste immer noch den Buckel krumm machen. Ein paarmal hatte er auf die Regierung geschimpft, weil sie ihm keine Arbeit gab. „Alles unfähiges Kroppzeug“, hatte er gewütet. Sie hatte ihm recht gegeben, damit er von seiner Wut herunterkam. „Wir hätten uns eben unser Land nicht wegnehmen lassen sollen“, sagte sie, aber er erwiderte nichts.

 

Sie erschrak, so spät schon! Sie schlug die Zeitung zu. In vier Minuten, pünktlich um halb acht, würde die Ärztin kommen und ihr die Diabetesspritze geben. In den Bauch, mit so einem neumodischen Gerät, das gar nicht wie eine Spritze aussah. Und wenn sie die Frau auch nur nach dem Wetter fragte, würde die nur nicken und zur Tür stürzen, sie war beschäftigt, der nächste Patient wartete schon.

 

Sie schleppte sich ins Bad. Wenigstens gewaschen musste sie sein, wenn die Ärztin kommen würde. Sie wusch sich mit dem Seiflappen unter fließendem Wasser, wie sie es immer getan hatte, damals schon, als sie mit Hermann noch in der schrecklichen alten Wohnung gelebt hatte, ohne Bad und Balkon. Hermann. Sie stellte sich vor, wie er immer in der Wanne saß, jünger als in seinen letzten Jahren und hager, dass man das Brustbein sah, er hatte bis zuletzt noch alle Zähne gehabt und lachte immer, um sie zu zeigen. Sie hatte ihn deshalb aufgezogen, er sei eitel wie die Jungfrau im Bade, die Bathseba, er wisse schon, das Bild von Rembrandt, nur nicht so schön und so mollig. Und dass er dann besonders laut lachte, daran erinnerte sie sich jetzt. Plötzlich war das Bild weg, sie sah wieder die leere Wanne.

 

Baden wäre schön, dachte sie, aber in die Wanne zu steigen war ihr zu umständlich und zu gefährlich, sie könnte ausrutschen, und dann wäre niemand da, der ihr wieder hochhelfen würde. Und sowieso, allein würde sie niemals auch nur in die Wanne hineinkommen, bei ihrer Figur. Und das Zittern in den Knien, und wieder wurde ihr schwarz vor Augen, als sie den Kopf hob und in den Spiegel blickte. Sie stand eine Weile, bis sie ihr Spiegelbild wieder erkennen konnte. Wie eine Furie sah sie aus, die Haare wirr und die vielen Fältchen auf den Wangen, die Augenbrauen waren verschwunden.

 

Sehr langsam kämmte sie sich, sie nahm die Strähnen zwischen die Finger und zog die Bürste vorsichtig durch. Trotzdem blieben Haare in ihr hängen. Eines Tages würde sie mit Glatze herumlaufen, wenn sie sich allzu heftig kämmte. Ach was, herumlaufen, sagte sie laut. Niemand würde es bemerken, außer der Ärztin und der Nachbarin, sie ging ja nicht mehr auf die Straße. Und dem Sohn. Aber dem war es erklärlich, dass sie Haare verlor, er dachte wohl an seine eigenen, die auch schon schütter wurden.

 

Plötzlich wurde ihr wieder schwarz vor Augen. Sie griff zum Handwaschbecken, im Spiegel sah sie ihr Erschrecken, die aufgerissenen Augen. Sie glaubte, einen Schrei auszustoßen, als ihr der Fußboden unter den Füßen wegrutschte. Sie begriff es nicht mehr, dass sie mit dem Kopf auf dem Wannenrand aufschlug, sie spürte keinen Schlag, sie fand es angenehm zu fallen, ihr war, als schwebe sie.

 

So fand sie die Ärztin, die, als auf ihr Klingeln nicht geöffnet wurde, die Feuerwehr gerufen hatte: im Bad, auf den Fliesen liegend, mit aufgerissenen Augen, die weißen Haare wie einen Heiligenschein ausgebreitet. 

 

„Sie hat sich seit Wochen auf den Weg gemacht“, sagte die Ärztin tonlos. Der Feuerwehrmann verstand nicht. „So sagen wir es den Angehörigen“, sagte sie, als sie das verständnislose Gesicht des Mannes sah.

 

„Ach so. So meinen Sie das, jetzt verstehe ich ...“

 

„Es ist der letzte Weg.“ Seufzend strich sie sich vor dem Spiegel die Strähne aus der Stirn, die ihr beim Bücken ins Gesicht gefallen war. „Sie ist angekommen“, sagte sie. „Ja, die Frau Riemann.“

 

„Angekommen“, sagte sie noch einmal.

 

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